Folge 6

Monatelang reiste Autor Michel Ruge mit seiner Familie durch Westafrika. Auf der Suche nach dem authentischen Afrika und dem, was Europa von ihm lernen kann. Die Reise endete in Accra, das als kultureller Hotspot gehandelt wird. Eine unstete Stadt, die noch nicht weiß, wie sie sein will. Anatol Kotte fotografierte.

 

Gabriel Tichauer und Michel Ruge kennen sich aus Berlin. 2020 strandete der DJ mitten in der Pandemie in Accra – und ist geblieben

Auf dem Parkplatz vor dem „Berghain“ habe ich DJ San Ga­briel das letzte Mal getroffen. Obwohl ich im Berlin der Wen­dezeit zu den bekannten Nacht­gestalten zählte, war ich dort nie feiern. Nur an diesem Abend war ich für ei­ne Ausstellungseröffnung dort und hätte nicht damit gerechnet, Gabriel zu treffen. Wir hatten zu dieser Zeit Streit. Irgendeine Kleinigkeit, die wir auf dem Parkplatz weiter ausfochten und die damit endete, dass ich ihn leicht schubste. Fünfzehn Jahre später erzähle ich meinem Freund Ernesto Gallarza Bello, dem Veranstal­ter der legendären Livedemo-­Events in Berlin, von unserem Afrika­-Projekt und er greift di­rekt zum Handy und wählt eine Nummer in Accra. Dort nämlich wohnt DJ San Gabriel aka Gabriel Tichauer seit zwei Jahren. Der ist nicht nachtragend, und so esse ich ein paar Monate später mit ihm Ghana Soup im „Sikada“ in der Dadebu Road im angesagten Stadtteil Osu. Hier hat Gabriel die ersten zwei Jahre gewohnt und isst seit 2020 die würzig­scharfe Suppe, die zum Besten gehört, was ich während der gan­zen Reise durch Afrika gegessen habe. So lange ist er schon hier, kam eigentlich nur für ein Festival, hatte nicht vor zu bleiben, doch dann kamen die Pandemie und der Lockdown.

 

Jetzt hat er ein Haus, eine Freundin, einen Hund, einen Porsche, ein Fashionlabel und legt auf den großen Festivals auf. Spätestens seit Präsident Nana Akufo-­Addo 2018 das Jahr der Rückkehr ausgerufen hat, um die ghanaische Diaspora zur Rückkehr oder zumindest zu ei­ner Erneuerung der Beziehung mit ihrer oder der Heimat ihrer Vorfahren zu bewegen, leuchtet Accra auf der Landkarte der angesag­ten Metropolen der Welt. Viele kamen, darun­ter auch prominente Persönlichkeiten wie Idris Elba oder Naomi Campbell, und kehren seitdem, meist um die Weihnachtszeit, regel­mäßig zurück. Der Dezember ist Accras Party­monat, und DJ San Gabriel versorgt die Szene mit Klängen von Afrobeats, Afrohouse und Amapiano. Hautevolee und Jeunesse dorée in Accra zelebrieren ein neues Selbstbewusstsein, das erleben wir ein paar Tage später bei einer Vernissage des Malers Amoako Boafo. Der hat eigens für das Event ein zweistöckiges Gebäu­de bauen lassen, eckig, unverputzt und ohne Fensterscheiben, in dem er kurz vor Weih­nachten seine neuesten Arbeiten zeigt. Die Gäste könnten auf einer Hollywoodpremiere unterwegs sein: Mäntel und Kleider in Mus­tern von Zebras und Leoparden, große Hüte, auffällige Schmuckstücke und glitzernde Pail­letten. Vereinzelt Europäer in schlichten Lei­nen, so wie ein Londoner Galerist, mit dem ich ein Glas Champagner trinke.

Alle warten auf Amoako, Sohn eines Fischers und einer Köchin, dem der Arbeitgeber der Mutter eine Ausbildung am Ghanatta College of Art und Design ermöglichte. 2014 ging er von Accra nach Wien, studierte an der Akademie der bildenden Künste und weckte bald darauf mit seinen Porträts das Interesse der Kunstwelt. Im Februar 2020 knackt eines seiner Bilder auf einer Auktion die 800.000-Euro-Marke, auch das New Yorker Guggenheim Museum hat sich eines gesichert. 2021 gestaltete er die Sommerkollektion von Dior – und doch, in Interviews gibt er sich gelassen. Er kommt zu Fuß zu seiner eigenen Vernissage, während draußen im Minutentakt dunkle Autos vorfahren, vor allem hochgetunte G-Modelle. Es ist eine durchweg stylische Veranstaltung, die so in jeder anderen Metropole der Welt stattfinden könnte. Lediglich die Soldaten, die die Straße abgesperrt haben und sich vor dem Gebäude aufhalten, sind speziell. Obwohl keine gefährliche Stadt, sind Uniformierte in Accra Teil des öffentlichen Lebens, man sieht sie überall. Doch hier setzen sie mich und uns zum ersten Mal während der gesamten Fahrt entlang der Westküste nicht unter Stress. Anders als in Mauretanien oder Gambia werden wir hier nicht alle paar Kilometer angehalten, um Strafen für vermeintliche Geschwindigkeitsüberschreitungen zu zahlen oder Papiere vorzuzeigen, auf die wir so manches Mal stundenlang in irgendwelchen Behörden gewartet haben. Ghana ist ein Land, das sich gut bereisen lässt. Englisch ist die Amtssprache, die Kriminalität bezieht sich zumeist auf den digitalen Raum. Weshalb uns auch gleich nach der zweiten Abhebung mit unserer Kreditkarte die selbige gesperrt wird. Unsere Bank in Deutschland fordert für den Einsatz von Karten in Ghana eine besondere Autorisierung, ansonsten wird sicherheitshalber gesperrt. Und auch ein Land Rover Defender sorgt nicht für Aufsehen, im Gegenteil – das bereits erwähnte G-Modell ist ebenso beliebt wie SUV und Geländewagen insgesamt, die sich durch den Verkehr quälen. Der ist in Accra so zäh, dass wir oftmals eineinhalb Stunden für eine Fahrt von eigentlich 15 Minuten brauchen.

Dass wir hier überhaupt Defender fahren, ist ein Glück, denn unser Wagen steht in Dakar – die Jahrhundertregenzeit, die die gesamte Westküste wochenlang lahmgelegt hat, hat uns in Gambia zur Umkehr gezwungen, und wir sind nach Accra geflogen. Als wir beim dortigen Händler vorbeigehen, sehe ich einen großen und kräftigen Mann, der seinen Goldschmuck ebenso selbstverständlich trägt wie ein breites Lächeln. Fawaz Baitie ist der General Sales Manager des gesamten Landes und braucht nur zehn Minuten und einen Espresso, um bei unserem Projekt „My Teacher Africa“ dabei zu sein. Schon am nächsten Tag haben wir ein Ersatzauto samt Fahrer. Und den Kontakt zu „Mr Coffee“, einem wohlhabenden Unternehmer aus Accra, der unsere Tour von Europa nach Afrika rückwärts fahren will und uns gerne treffen möchte. Ich spüre das Sprudeln dieser Stadt, ein bisschen wie im Berlin der Wendezeit, in dem DJ San Gabriel und ich unterwegs waren. Alles geht schnell, unkompliziert. Zumindest in gewissen Vierteln. Denn Accra hat neben dem modernen auch noch ein traditionelles Gesicht, in das wir in Jamestown blicken.

Der alte Kern der Stadt ist mehr Holzhütte und Abfall, mehr herausfordernde Gerüche und erkennbare Armut als der Rest der Stadt. Accra ist auch die Stadt mit der größten Halde europäischen Elektroschrotts, einer der giftigsten Orte der Welt, an dem 6000 Menschen leben und den die Locals Sodom nennen. Accra ist sehr viel, „manchmal zu viel“, sagt Gabriel. Und muss hin und wieder raus. So machen es viele hier, die sich das Reisen leisten können. Auch wir müssen los, zurück nach Europa. Ich komme wieder. Allein schon wegen der guten Suppe.

Im April 2022 machen sich Michel und Annika Ruge mit ihrer einjährigen Tochter in einem Land Rover Defender auf den Weg von Hamburg nach Afrika. Sie wollen herausfinden, was Europa von Afrika lernen kann, und nennen ihr Projekt „My Teacher Africa“. Ihre Reise dokumentieren sie exklusiv in einer Kolumne für iconmagazine.de. Zurück in Europa, gibt es in diesem Sommer Ausstellungen zum Projekt in Hamburg, Berlin, Köln und Frankfurt. 2024 erscheint ihr Buch.

Text
Michel Ruge
Fotograf
Anatol Kotte